„Boar, Philip, ey.“ Mir schwante, dass dieser Abend doch länger werden würde, als ich ursprünglich gedacht – oder seien wir ehrlich: gehofft – hatte. Denn wenn Susi mit diesem Satz um die Ecke kommt, weiß ich, das wird eine längere Geschichte. Grundsätzlich habe ich auch gar nichts gegen Geschichten. Geschichten sind toll. Sie machen Spaß, reißen mit, entführen in andere Welten. Sie müssen nur gut erzählt sein. Susis „Philip“-Geschichten sind nichts von alledem. Sie laufen immer nach dem gleichen Schema ab. Philip hat dies, mich nervt das und überhaupt immer jenes. Das Ende ist auch jedes Mal dasselbe: „Naja, aber abgesehen davon, ist er doch ein toller Kerl.“

Ich bin inzwischen  ein so routinierter Zuhörer, dass ich im Kopf nur leise mitzählen muss, um zu wissen, wann mein Einsatz ist. Zehn Sekunden nach dem Prelude: „Oh man, wirklich?“. Fünf Sekunden später: „Ach, Philip.“ Acht Sekunden: „Ja, total!“. Drei Sekunden: „Nein, das geht gar nicht!“ Mit dieser Taktik fahre ich erstaunlich gut und manövriere mich geschickt durch die immer gleiche Litanei, während ich mich gedanklich anderen Dingen widmen kann. Der Einkaufsliste zum Beispiel oder dem Splissgrad meiner Haarspitzen.

Doch auch ich habe schlechte Tage, bin unkonzentriert, verliere mich zu sehr der Analyse meiner brüchigen Haare und verzähle mich. „Habe ich das echt verdient?“ – „Ja, total! Äh… nein, das geht gar nicht!“ Doch Susi verzeiht mir solche kleinen Holperer. Ich bin für sie ohnehin mehr so was wie eine Müllablagefläche. Ernstgemeinte Ratschläge – och, nö, lass ma. Von einer Papiertonne würde man auch nicht erwarten, dass sie einem beim Entsorgen der unzähligen leeren Pizzaschachteln dazu rät, sich doch mal gesünder zu ernähren. Überhaupt, sprechende Mülltonnen. Wo kämen wir da hin? Entweder in die Sesamstraße oder in eine vermutlich gar nicht so weit entfernte robotereske Zukunft. Beides angesichts meiner aktuellen Lage doch recht verlockende Optionen. Aber mir oblag weiterhin die Rolle der stummen Papiertonne mit klar vorgeschriebenen Verhaltensregeln: nicke, zeige Verständnis, sei solidarisch wütend. Einmal das ganze Gefühlsspektrum hoch und runter.

Ich war ganz in meine Mülltonnenchoreographie vertieft, als mich dann doch irgendwas zurück an Oberfläche zog. Hat sie da gerade was von einem Fuß gesagt? Das war neu. Mein vorprogrammiertes Repertoire sah dafür keine adäquate Entgegnung vor. Alarmstufe Rot. Meine Synapsen gaben den Befehl, sofort den Autopilot zu beenden. Schnell ratterten Assoziationsketten durch meinen Kopf. Fuß – Hand – Mund – Mundgeruch – Zahnarzt – Arzt – Orthopäde – Fuß gebrochen – Fuß gerochen – Fußpilz – Klumpfuß. Nein, so würde ich da nicht rauskommen. Es blieb nur eins: ernsthaft nachfragen und mich aktiv am Gespräch beteiligen. Na gut, Synapsen bereitmachen: Wir gehen von Bord, lassen Spliss Spliss sein und betreten unerforschtes Philip-Territorium.

„Äh, sorry, was war das mit dem Fuß?“ Susi stoppte in ihrem nicht enden wollenden Wortschwall und wiederholte den Stein des Anstoßes – oder sollte ich sagen: den Fuß? „Philip hat mir seinen Fuß mitten ins Gesicht gehalten!“ Okay, so weit so gut. Aber für eine genaue Situationsanalyse und vor allem für meine weitere Taktik brauchte ich noch mehr Futter. All mein rhetorisches Geschick kanalisierend und mit der natürlichen Begabung eines Homer ging ich der Sache auf den Grund: „Mhm. Und warum?“ Susi wusste meine Kunst gekonnter Auslassungen, die den Schein von Desinteresse zwar wage andeuteten, den Angesprochen über die wirklichen Hintergründe aber immer im Unklaren ließen, zu schätzen. „Er war einmal in seinem Leben bei einer Fußpflege und hält sich jetzt für eine liebreizende Geisha, die alle mit ihren Füßen um den Verstand bringt.“

Naja, letzteres scheint ja gefruchtet zu haben. Wobei man zugeben muss, dass Susi Teile ihres gesunden Menschenverstandes wohl schon länger eingebüßt hatte. Ich ließ das Gesagte erst einmal sacken und kramte in meinem Gedächtnis nach verwertbaren Informationen zur japanischen Kulturgeschichte. Leider stellte ich schnell fest, dass ich damit nicht dienen konnte. Genialen Apotheken-Marketings sei Dank konnte ich dafür mit etwas Fußpilz-Know-how aufwarten. Aber ob Susi sich damit zufriedengeben würde? Ich bezweifelte es.

Und während ich noch darüber nachdachte, ob Fuß- und Nagelpilz das Gleiche sind, warum man solche Infektionen überhaupt Pilze nannte und mir einen Fuß voller Champignonköpfe vorstellte, sprach Susi munter weiter, kam vom Hundertsten ins Tausendste und am Ende doch wieder zu ihrer altbekannten Schlussfloskel. Und ich, ich wurde wieder zu Oskar, dem Herrscher der Mülltonne.