Ungefragt und stets zum ungünstigsten Zeitpunkt – sein störendes Wesen ist ja quasi konstitutiv – formiert er sich aus dem Nichts. Einmal materialisiert indoktriniert er sämtliche Handlungen der von ihm erkorenen Wirt:innen , in welchen er sich parasitär einnistet. Hat man bereits Bekanntschaft mit diesem Zeitgenossen gemacht, weiß man: Widerstand ist zwecklos. Und so ergab auch ich mich, nachdem ich die Unabänderlichkeit meiner ungewollten Zweisamkeit erkannte, in mein desolates Schicksal. Hallo, Murphy!
Aufgrund seiner praktisch-ökonomischen Veranlagung liegt es Murphy fern, auch nur Bruchteile der Zeit seiner Anwesenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. Deshalb ließ er mich seine Autorität direkt am frühen Morgen spüren, kurz nachdem ich die schlaftrunkenen Augen unter Auferbietung sämtlicher Willenskräfte zum Aufsperren überreden konnte. Ein verschwommener Blick auf die Uhr offenbarte das Unmögliche: Ich hatte verschlafen! Für viele Menschen ist das eine mehr oder minder regelmäßig auftretende Unannehmlichkeit. Für mich, die sich stets einer beeindruckend einwandfrei funktionierenden inneren Uhr erfreuen konnte, stellte diese Tatsache einen Defekt desaströsen Ausmaßes dar, wurde dadurch doch immerhin meine unzweifelhafte Selbstsicherheit mit dem folgenreichen Verdacht der Schadhaftigkeit belegt. Danke, Murphy!
Zwischen Ärger und Fassungslosigkeit hin und her schwankend katapultierte ich mich aus dem Bett, um garzellengleich der Küche entgegen zu spurten. Mein Sprint wurde allerdings jäh beendet, als ich mit dem Türrahmen karambolierte, der als stummer Komplize Murphys in seiner unnachgiebigen Unbeweglichkeit keinen Anteil an meiner misslichen Lage nahm.
Mit puckerndem Zeh und schmerzerfülltem Gesicht torkelte ich zum Wasserkocher, setzte ihn in Gang und schmiss einen Teebeutel in die Tasse. Ungeduldig starrte ich das Gerät in der wahnwitzigen Idee an, das Wasser durch hypnotische Kräfte schneller zum Kochen bringen zu können. Resignierend stellte ich fest, dass die Physik solchen transzendenten Ansätzen gegenüber verschlossen ist. Als sich schließlich erste mikroskopisch kleine Bläschen zu bilden begannen, riss ich den Behälter an mich und goss das Wasser, die Hälfte verschüttend, sintflutartig in die Tasse. Ich schnappte sie mir, griff dabei aber nicht an dem dafür vorgesehenen Henkel. Schnell wurde mir die Sinnhaftigkeit dieses Teilstücks klar, welches dazu dient, die Hand möglichst geringer thermischer Einwirkungen auszusetzen. Diese Funktionsbestimmung torpedierte ich durch unbedachte Ignoranz. Ein heißer Strahl, der meinen Frontallappen zur sofortigen Öffnung meiner Greifapparatur veranlasste, durchzuckte meine Hand. Und so stand ich nun in einem Teich aus heißem Tee, mit einem sich bläulich verfärbenden Zeh und einer pochenden Hand. Ich erwog meine Optionen und entschied mich, dieses Chaos zunächst unbeseitigt zurückzulassen und mich stattdessen der morgendlichen Reinigung meiner selbst zu widmen. Ja, Murphy hilft einem dabei, Prioritäten zu setzen.
So hetzte ich ins Bad, entledigte mich meiner Kleider und sprang unter die Dusche. Nach intensiver Bewässerung ergriff ich das Duschbad, welches sich jedoch auch durch frenetisches Pressen und Drücken nicht wie durch Zauberhand wieder auffüllte. Mehr nass als trocken zog ich mich – der törichten Hoffnung erliegend, ich könne mehrere Dinge parallel erledigen – zähneputzend an. Dabei geschah das Unvermeidliche: Ich bespritzte mich mit Zahnpasta. Und da Murphy offensichtlich einen besonderen Gefallen an weihnachtlichen Kunstschnee-Dekorationen findet, war mein grüner Pulli bald mit unzähligen weißen Sprenkeln übersät, sodass ich als fleischgewordene Reinkarnation einer Weihnachtstanne einem winterlichen Schaufensterensemble durchaus alle Ehre gemacht hätte. Doch die knappe Zeit ließ ästhetische Erwägungen in den Hintergrund treten und so stürmte ich zur Tür und war bereits an der Haustür angelangt, als mein hypochondrisch-routinierter Blick in die Tasche offenbarte, dass ich mein Portemonnaie vergessen hatte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die mit jedem Schritt sich zu vermehren scheinenden Treppenstufen in die 5te Etage erneut zu erklimmen.
Schwer keuchend befand ich mich kurze Zeit später auf der Hetzjagd zum Bahnhof und fragte mich, ob ich die Wohnungstür bei meinem fluchtartigen Verlassen abgeschlossen hatte. Ich versuchte, den beunruhigenden Gedanken zu verscheuchen, was mir bis zum Einsetzen des monsunartigen Regengusses nur leidlich gelang. Dieser spülte buchstäblich alle vorherigen Gedanken – und sogar einen Teil der Zahnpastaflecken – davon, sodass ich bereits nach drei Schritten vollkommen durchnässt war.
Am Bahnhof angekommen verfiel ich dem Glauben, Murphys diabolische Perfidie hätte nun ein Ende: Laut Anzeige sollte die Bahn pünktlich sein! Kein Zugausfall, kein Polizeieinsatz, keine Weichenstörung, keine witterungsbedingten Verzögerungen – nichts von dem, was inzwischen zum nervenaufreibenden Alltag von erfahrenen Bahn-Nutzer:innen gehörte, harrte meiner Ankunft entgegen.
Die Bahn fuhr ein, ich sicherte mir einen Sitzplatz und konnte zum ersten Mal an diesem Morgen tief durchatmen. Und genau das war der Grund für Murphys Zurückhaltung: Er wollte mich in Sicherheit wiegen. Doch am Bahnhof Wannsee spann er wieder seine halsbrecherischen Fäden. Ich bemerkte, dass der Zug länger als üblich am Bahnsteig stehen blieb. Längst waren Passagiere aus- und eingestiegen sowie zurückgetreten und trotzdem verharrte die Bahn in Bewegungslosigkeit. Also doch mal wieder technische Probleme, schoss es mir durch den Kopf.
Eine knisternde Zugdurchsage durchschnitt das anschwellende Gemurmel der Mitinsassen. Der Bahnführer erklärte: „Ich kündige!“. Wie bitte? Er kündigt und lässt uns einfach hier in der Pampa stehen? Nein, nein, wir haben es hier bestimmt mit einem Exemplar der Gattung Witzbold zu tun. Okay, wir lachen alle einmal darüber, er hat seinen Kolleg:innen eine tolle Stammtischgeschichte zu erzählen und wir fahren jetzt weiter. Ich lächelte seicht vor mich hin und wartete darauf, dass der Zug jede Sekunde losgleiten würde. Doch die sich exorbitant steigernde Empörung der anderen ließ mich aus meiner Selbstbeschwichtigung erwachen.
Ungläubig fixierten die Leute einen sich gemächlich, aber dennoch selbstsicher vorbeischreitenden Lokführer, der eine Zufriedenheit ausstrahlte, welche die allgemeine Entrüstung kurzzeitig in staunendes Bewundern umwandelte. Wer kennt nicht diese Momente im Leben, in denen man am liebsten allem den Rücken kehren und einen ganz neuen Lebensabschnitt beginnen möchte? Dieser Mann bezwang augenscheinlich Feigheit und Pflichtgefühl und setzte kühn das von so vielen Gedachte in die Tat um. Beeindruckend!
Hätte ich von diesem Ereignis nach einem gewohnten Arbeitstag im Radio oder Fernsehen erfahren, hätte ich diese heroische Tat einer neuen Identitätsbestimmung gewiss Beifall klatschend anerkannt. So aber tobte in mir anstelle von Hochachtung, Respekt und auch Neid, nur tiefschwarze Bitterkeit. Ich verfluchte den Egoismus des Bahnführers, die infantilen Kommentare der anderen Bahnfahrer:innen, meinen zunehmend die Kapazitäten meines Schuhs ausreizenden, anschwellenden Zeh und vor allem: Murphy! Ja, er hatte es mal wieder geschafft, meine innere Ruhe in ein flammendes Inferno zu verwandeln und damit war seine Arbeit getan – zumindest für heute. Bis bald, Murphy.