Ich hasse Unpünktlichkeit! So ungern ich auf andere warte, umso schlimmer ist für mich der Gedanke, andere auf mich warten zu lassen. Deswegen habe ich mir im Laufe der Zeit eine routinierte Überpünktlichkeit angeeignet. Das Resultat ist genau das, was ich eigentlich vermeiden will. Und doch wird es immer wieder – und zu allem Überfluss mehr oder weniger freiwillig durch mich selbst – herbeigeführt: Ich warte.

Dieses Mal scheint mir die Zeit davon zu rennen. Ich kämpfe mich mit dem Auto durch den Berliner Feierabendverkehr. Schnell muss ich resignierend feststellen, dass die zuvor präzise durchdachte und bereits den obligatorischen Notpuffer beinhaltende Zeitkalkulation von den Verkehrsverhältnissen usurpiert wird. Aufgeschnürt wie an einer Perlenkette drängt sich Fahrzeug an Fahrzeug, um an jeder, aber auch wirklich jeder Ampel, dem scheinbar höhnisch lächelnden Rot hilflos ausgeliefert zu sein. Kommt die Kolonne dann doch allmählich in Schwung, wird dieser sofort wieder durch den Flickenteppich der zahlreichen Baustellen lahmgelegt. Dabei ist es Berliner Marotte, dass ebendiese Baustellen zwar wie Pilze aus dem Boden schießen, sie es sich, einmal das Licht der Welt erblickt, aber parasitengleich heimisch machen, nur mit Mühe und Not wieder verschwinden und als Hinterlassenschaft eine nicht minder unebene Fahrbahn preisgeben als vor ihrem Erscheinen.

Selten erlebt man auf andere Weise als auf Berlins Straßen fast das gesamte menschliche Gefühlsspektrum. Auch ich schwanke auf meiner 40-minütigen Fahrt zwischen Wut, Verzweiflung, Nervosität, Hoffnung und Resignation. Ja, ich bin gerne pünktlich und so entwickelt sich diese Reise mehr und mehr in ein nervenaufreibendes Martyrium. Und dabei handelt es sich nicht einmal um ein Treffen von existenzieller Wichtigkeit. Nein, ich bin mit Freundinnen zu einem Karaoke-Abend verabredet. Und dennoch sträubt sich alles in mir, mich der nahenden Katastrophe des Zuspätkommens demütig zu unterwerfen. Daher nähre ich meine Zuversicht, es doch noch rechtzeitig zu schaffen.

Mit einer Mischung aus traumtänzerischer Sicherheit und waghalsigen Fahrmanövern, die mehr mein unverschämtes Glück als meine besonnene Fahrkunst bezeugen, erreiche ich mein Ziel. Und schon stehe ich vor dem nächsten, von mir vor jedem Fahrtantritt besonders gefürchteten Hindernis: der Parkplatzsuche. Oder vielmehr dem Finden und unfallfreien Ausfüllen einer sich darbietenden Lücke. Ich spüre, wie Hektik gleich der Lava eines aktiven Vulkans in mir aufsteigt und sich zunehmend der explosionsartigen Kulmination nähert. Die ohnehin schon vorhandenen Schweißperlen auf meiner Stirn laufen Gefahr, sich in einen reißenden Bach zu verwandeln und in Rinnsalen mein Gesicht hinunterzulaufen. Unter meinen Achseln ergießen sich längst schweißerfüllte Sturzbäche.

Doch plötzlich sehe ich einen Silberstreifen am Horizont in Form einer Parklücke. Erleichtert und mit sinkendem dermatologischen Feuchtigkeitsgehalt setze ich zum ordnungsgemäßen Abstellen an. Ungeachtet der weiteren Verkehrsteilnehmer:innen möchte ich schnellstmöglich die Lücke okkupieren, um ihrer nicht durch andere, aus dem Nichts vorstoßende Fahrer:innen mit entschlossener Annexionsabsicht abspenstig gemacht zu werden. Doch mein triumphierendes Siegesgefühl implodiert, als ich bemerke, dass dieser freie Platz nur Anwohner:innen mit entsprechender Bescheinigung vorbehalten ist. Missmutig setze ich meine Suchfahrt im Zeitlupentempo fort und meine Entmutigung wandelt sich allmählich in schiere Verzweiflung.

Ich hattest schon vor dem Fahrtantritt solche Befürchtungen. Denn im motorisierten Hautstadtdschungel einen Parkplatz zu finden, gleicht der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Ab und zu gönne ich mir aber gerne ein wenig Dekadenz, indem ich dem ausgebauten Streckennetz der öffentlichen Verkehrsmittel den Rücken kehre und mich stattdessen, eingeschlossen in meinem kleinen PKW-Kokon, in das Verkehrs-Potpourri wage.

Schließlich werde ich auf meiner Parkplatzsuche erneut fündig. Sämtliche Verkehrsregeln missachtend und beinahe ein parkendes sowie ein vorbeifahrendes Fahrzeug rammend, platziere ich mein Auto in der Lücke. Mit einem Blick auf die Uhr versichere ich mich meines bisher nur geringfügig überschrittenen Zeitfensters. Ein zweiter Blick fällt auf ein Schild an der Straßenecke, welches die von dir benutzte Parkzone noch für die kommenden 30 Minuten als zahlungspflichtig ausweist. Einen kurzen Moment konfligiert Eile mit Pflichtgefühl – meine Ungeduld siegt und ich spurte die gleichförmigen Straßen blindlings überquerend meinem Treffpunkt entgegen.

Dort angekommen löst sich mühsam meine Anspannung. Ich versuche, mich den lässig schlendernden Passant:innen anzupassen und die Spuren dieser von Hetzerei durchdrungenen Anfahrt auf meinem Gesicht zu vertreiben. Nach ungefähr zehnminütigem Warten trifft meine Freundin – verspätet – ein. Mit ihr mache ich mich nun auf, um die restlichen Sangesmutigen einzusammeln. Dies jedoch nicht auf direktem Weg, da ich, unfähig, mein Sicherheitsbedürfnis weiterhin zu unterdrücken, beschließe, mit nunmehr normalem Puls- und Herzschlag dem Auto einen kurzen Besuch abzustatten, um mit Unterstützung meiner Freundin das vorhin nur beiläufig begutachtete Schild zu studieren.

Fröhlich plaudernd flanieren wir die Straßen entlang, durch welche ich noch wenige Minuten zuvor wie gejagtes Wild gerannt bin. Im Slalomgang um die splittergranatengleich angeordneten Hundehaufen kommen wir schließlich an meinem Parkplatz an. Mit einem Mal verschlägt es mir die Sprache, meine Augenhöhlen scheinen die hervortretenden Augäpfel nicht mehr halten zu können. Geübt durch jahrelange Lektüre von Rätselbüchern erkenne ich schnell, was hier ganz und gar nicht stimmt: Meine Parklücke ist leer!

Das Auto: verschwunden, verschluckt, gefressen vom dem unersättlichen Großstadtungetüm! Alle Poren meines Körpers öffnen sich schlagartig und lassen der eingedämmten Feuchtigkeit freien Lauf. Mein Gesicht färbt sich ebenso abrupt in ein tiefes, besorgniserregendes Rot. Panik! Wirklichkeitsverzerrende und jegliche Vernunft paralysierende Panik ergreift von mir Besitz. Unverständliches vor mich hin stammelnd stolpere ich auf dem Gehweg hin und her. Verschiedene Szenarien, allesamt utopisch, von mir aber nicht als solche erkannt, zeichnen sich vor meinem Inneren ab. Meine Gedanken überschlagen sich in stakkatohafter Aufeinanderfolge. Meine Freundin versucht, mich zu beruhigen und an meinen Verstand zu appellieren. „Vielleicht hast du ja in einer anderen Straße geparkt und dies ist gar nicht deine Lücke?“

Doch zu spät, meine Rationalität ist in diesem Moment ausgelöscht, stattdessen herrscht rauschhafte Hysterie. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich das Auto hier abgestellt habe. Jemand muss das Auto gestohlen haben, das ist Fakt. In meiner Fassungslosigkeit bin ich kurz davor, die Polizei zu rufen, bis plötzlich ein entscheidendes Detail in mein Blickfeld gerät. Ein Schild direkt bei der Lücke. Seltsam. Beim Einparken war dieses Schild nicht dort gewesen, sondern ein paar Meter weiter an der Straßenecke. Sollte ich mich doch in der Straße geirrt haben? Bin ich aus purer Vergesslichkeit und Unachtsamkeit zu einem nervlichen Wrack mutiert? Die Indizienkette scheint eindeutig, sodass sich ein mikroskopischer Teil meines geistigen Denkvermögens zurück an die Oberfläche meines Bewusstseins kämpft und ich mich überreden lasse, eine Straße weiterzugehen.

Immer noch im Bann des eben erlittenen Traumas taumle ich auf dem Fußweg und flehe, in wenigen Metern mein Auto zu sehen. Mit weit aufgerissenen Augen fixiere ich die parkenden Fahrzeuge, bis ich einen blauen Schimmer entdecke. Und ja, tatsächlich, dort steht es, meiner erlittenen Qualen unwissend, friedlich an der ihm von mir zugedachten Stelle.

Unendliche Erleichterung überkommt mich. Doch im selben Moment fühle ich auch eine gewisse Beschämung. Wie habe ich Menschen stets belächelt, die außerstande sind, ihr geparktes Auto wiederzufinden. Mir könne so etwas nie passieren – das zumindest war bisher meine hochmütige Selbsteinschätzung. Heute wurde ich eines Besseren belehrt.